Zwischen den Nationen
Im Jahr 1742 fiel das Hultschiner Ländchen an Preußen. Heute hält die deutsche Botschaft dort regelmäßig Sprechtage ab
15. 4. 2015 - Text: Josef Füllenbach, Foto: Fotoarchiv Hultschiner Ländchen
Das Hultschiner Ländchen, unscheinbar und bescheiden im Nordosten Tschechiens gelegen, zeichnet sich durch nichts weiter aus als durch sein wechselhaftes und darum unverwechselbares Schicksal im deutsch-tschechischen Spannungsfeld. Das Land und seine Bewohner sind bis heute von dieser Vergangenheit geprägt. Die „Prager Zeitung“ zeichnet in vier Beiträgen, die ab dieser Ausgabe in loser Folge erscheinen werden, die eigentümliche Geschichte des Hultschiner Ländchens nach.
Im Hultschiner Ländchen (Hlučínsko), in Nordmähren an der tschechisch-polnischen Grenze zwischen Opava (Troppau) im Westen und Ostrava (Mährisch Ostrau) im Osten gelegen, sind die Leute stolz auf ihre heimatlichen Gebräuche und Traditionen. Diese sind stark von den Festtagen des Kirchenjahres geprägt und bestimmen auch heute noch weitgehend das Leben in der ländlich abgeschiedenen Gegend. Doch die politische Wende von 1989 hat es ermöglicht, dass sich in den hergebrachten Jahresablauf ein weiteres, freilich sehr weltliches Ereignis einfügen konnte, das nun schon seit einigen Jahren im Frühjahr und im Herbst so manches Herz höher schlagen lässt: Am 21. und 22. April wird es wieder so weit sein, zwei Beamte vom Konsulat der Deutschen Botschaft in Prag rücken an und werden zwei Tage lang im Städtchen Kravaře (Krawarn) Konsularsprechtage abhalten.
Viele Bewohner des Hultschiner Ländchens besitzen nämlich neben der tschechischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Konsularsprechtage sollen den dort lebenden deutschen Staatsangehörigen den Weg zu deutschen Pässen oder die Erledigung anderer Formalitäten erleichtern, die sonst den rund 400 Kilometer langen Weg nach Prag erfordern würden. Und manchmal geht es auch zunächst nur um die Klärung, ob aufgrund der Abstammung und der Staatsangehörigkeit der Vorfahren überhaupt die Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass später, nach langwieriger Prüfung durch eine Behörde in Köln, eine Bescheinigung über die bestehende deutsche Staatsbürgerschaft ausgestellt werden kann. Es sind jedes Mal über hundert Antragsteller und Ratsuchende, die das Angebot der Sprechtage in Anspruch nehmen. Das Interesse ist also groß und das auch ganz wörtlich zu verstehende Entgegenkommen der Botschaft daher nachvollziehbar.
Kaum verständlich dürfte dieser „externe Konsularschalter“ für jemanden sein, der wenig vertraut ist mit der Geschichte Schlesiens und dem Schicksal des knapp 320 Quadratkilometer umfassenden und heute über 70.000 Einwohner zählenden Landstrichs, der erst in jüngerer Zeit, nach dem Ersten Weltkrieg, den Namen Hultschiner Ländchen angenommen hat. Wer verstehen will, warum es ausgerechnet auf diesem Flecken Erde, der nach Ausmaß und Bevölkerung noch nicht mal an einen mittleren Landkreis heranreicht, eine solche Nachfrage nach deutschen Papieren gibt, der muss im Geschichtsbuch 275 Jahre zurückblättern, also bis ins Jahr 1740.
Dies war das Jahr, in dem Friedrich II. (später bewundernd „der Große“ genannt oder kumpelhaft „der Alte Fritz“) König von Preußen wurde. Kaum ein halbes Jahr auf dem Thron, eröffnete er im Dezember 1740 mit seinem „Raubtiersprung“ auf das zu Österreich gehörende Schlesien den österreichischen Erbfolgekrieg. Der römisch-deutsche Kaiser Karl VI. war im Oktober 1740 verstorben, seine älteste Tochter Maria Theresia ihm auf den Habsburgerthron gefolgt. Doch war diese Erbfolge in Europa nicht überall und nicht in jeder Hinsicht als legitim angesehen. So mancher hoffte nun unter Verweis auf vergilbte Rechtstitel der jungen und noch unerfahrenen Herrscherin ein Stück aus dem weit ausladenden Kuchen der Donaumonarchie entwinden zu können. Friedrichs Spekulation auf eine „allgemeine Balgerei“ um Teile der Erbmasse war berechtigt.
König ohne Skrupel
Doch der ebenfalls noch junge und ausgerechnet bei dem österreichischen Feldherrn Prinz Eugen in die militärische Lehre gegangene preußische König war derjenige, der am schnellsten zugriff und dabei die wenigsten Skrupel zeigte. Das Ergebnis seines Feldzugs konnte sich sehen lassen: In einem im Sommer 1742 in Breslau und Berlin geschlossenen Friedensvertrag trat Österreich Niederschlesien und den größten Teil Oberschlesiens einschließlich des Hultschiner Ländchens an Preußen ab; lediglich die Gebiete um Opava und Těšín (Teschen) verblieben als Österreichisch-Schlesien den Habsburgern. Natürlich betrachtete Wien den Verlust nicht als endgültig, handelte es sich doch um eine der wirtschaftlich wertvollsten Provinzen des Habsburgerreiches. Chancen der Rückeroberung gab es in der Folge etliche, aber das Kriegsglück blieb letztlich, trotz gelegentlicher Flatterhaftigkeit, dem Preußenkönig gewogen. Somit wurde Schlesien auf lange Sicht preußisch und nach 1871 zu einer blühenden Provinz des Deutschen Reiches.
Für das Hultschiner Ländchen war die Zäsur von 1742 freilich bei weitem einschneidender als für den Großteil von Schlesien, insbesondere Niederschlesien, wo die Bewohner den Einmarsch der preußischen Truppen und den folgenden Wechsel ihrer Staatsangehörigkeit überwiegend mit Wohlwollen aufnahmen. Die Hultschiner waren nämlich in ihrer großen Mehrheit keine Deutschen, sondern slawischen Ursprungs. Sie sprachen nicht deutsch, sondern eine mährische Mundart. Ferner waren sie tiefgläubige Katholiken, denen das mehrheitlich protestantische Preußen – zunächst jedenfalls – kein Vertrauen einflößen konnte. Und schließlich bewirkte die plötzliche Durchtrennung der traditionellen Verflechtung mit dem mährischen Umland eine einschneidende Umwälzung der wirtschaftlichen Beziehungen und Einengung der Möglichkeiten zum Lebensunterhalt.
In dieser Hinsicht wog am schwersten der Verlust der Absatzmöglichkeiten auf den nahen Märkten in Opava und Ostrava.
Insgesamt ging die Ausfuhr in die österreichischen Gebiete auf ein Viertel zurück. Einen besonders schweren Schlag erlitten die örtlichen Händler und Handwerker: Der herkömmliche West-Ost-Handelsweg, der bis dahin über Opava, Kravaře, Hlučín (Hultschin) und Bohumín (Oderberg) weiter nach Krakau führte, wurde nun im Süden entlang dem rechten Ufer der jetzt zum Grenzfluss gewordenen Oppa (Opava) um das Hultschiner Ländchen herumgeführt.
Kein Wunder also, dass vor allem die katholischen und slawischstämmigen Oberschlesier die preußische Landnahme mit Groll betrachteten. Der preußische Generalfeldmarschall Graf Schwerin hatte mithin allen Grund, seinen König vor dem Volk in Oberschlesien zu warnen, er möge doch auf seine persönliche Sicherheit achten, denn die Leute zwischen Oder und Neiße seien samt und sonders verschworene Feinde seiner Majestät. Doch das änderte sich im Laufe der Zeit. Spätestens nach dem für Friedrich II. mit einigem Geschick und viel Glück überstandenen Siebenjährigen Krieg wurde offenbar, dass Schlesien mitsamt dem Hultschiner Ländchen nicht nur vorübergehend an Preußen gefallen war. Und spätestens jetzt begann man, sich in den neuen Verhältnissen einzurichten. Noch zu Lebzeiten Friedrichs gab es in den örtlichen Pfarrchroniken Eintragungen, die ihn als einen der größten Herrscher priesen und ihm Glück, Gesundheit und Gottes Schutz wünschten.
Einen wichtigen Beitrag zu dieser Entwicklung leistete auch die von der Aufklärung inspirierte Politik des preußischen Königs. Der Grundsatz der Toleranz in religiösen Fragen erlaubte es, Gottesdienste, Predigten und Religionsunterricht in der Muttersprache ebenso beizubehalten wie die einheimischen katholischen Pfarrer. Im Schulwesen hatten unter dem alten Regime erbärmliche Zustände geherrscht; in der Regel erwarben die Kinder in den Pfarrschulen außer gewissen Bibelkenntnissen kaum die notdürftigsten Grundlagen im Lesen, Schreiben und Rechnen. Seit den 1750er Jahren kam es schrittweise zu Verbesserungen im Bildungssystem. Diese begannen mit der Einführung des Deutschunterrichts für Schüler und Erwachsene; von den Lehrern in Gebieten mit slawischer Bevölkerung wurde verlangt, sowohl die deutsche als auch die jeweilige Muttersprache (Mährisch beziehungsweise Polnisch) zu beherrschen. Systematischere Schritte zur Verbesserung der Bildungssituation erfolgten erst nach dem Hubertusburger Frieden vom Februar 1763, der den Siebenjährigen Krieg beendete: fachliche Ausbildung der Lehrer, größeres Gewicht auf Deutsch als Unterrichtssprache, Aus- und Neubau von Schulen, Übernahme der Schulverwaltung von der Kirche in die Hände des Staates. Insgesamt kam es zu einer Anhebung des Schulbesuchs auf durchschnittlich drei Viertel eines Jahrgangs, wobei es freilich deutliche Abstriche gab in den Jahreszeiten, in denen die Kinder bei den Feldarbeiten zur Hand gehen mussten.
Geschätzte Germanisierung
Bei all diesen Maßnahmen spielte natürlich eine gewisse Germanisierung eine nicht unwichtige Rolle, doch geschah dies – abgesehen von den Jahren des Kulturkampfes unter Bismarck – weniger unter nationalistischen Vorzeichen als in dem Bestreben, durch eine Reihe von Reformen den preußischen Staat zu vereinheitlichen und zu stärken, nachdem er im Ergebnis der Schlesischen Kriege sozusagen in Europas erste Liga aufgerückt war. Umgekehrt wussten es die Bewohner des Hultschiner Ländchens zunehmend zu schätzen, mit der Beherrschung der deutschen Sprache einen besseren Zugang zu den Segnungen des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs zu finden. Das bedeutete freilich für viele, wegen des Mangels an Arbeitsplätzen in der rückständigen, vorwiegend von Landwirtschaft und Handwerk geprägten Region ein Auskommen außerhalb zu suchen, sei es als Hausierer in der näheren, aber meist deutschsprachigen Umgebung oder als Arbeiter in weiter entfernten Industriegebieten bis hin zum Ruhrgebiet. Zudem galt das Erlernen der deutschen Sprache als Voraussetzung für den militärischen Dienst sowie für eine ungehinderte Kommunikation mit den Behörden.
So vermochten es die Hultschiner in ihrem Ländchen einerseits, an ihrer angestammten mährischen Muttersprache über die Jahrzehnte festzuhalten und als Rückgrat ihres sozialen und kulturellen Lebens die Feste und Gebräuche des katholischen Kirchenjahres weiterhin zu pflegen. Bis zu einem gewissen Grade lebten sie deshalb auf ihrem schmalen Landstrich als eine abgeschlossene, auf sich selbst bezogene Gemeinschaft. Andererseits wurden die Bindungen an Preußen und später an das Deutsche Reich immer enger durch den Gebrauch der deutschen Sprache im offiziellen Verkehr, durch die verwaltungsmäßige Integration in den Kreis Ratibor und den Regierungsbezirk Oppeln und durch den Militärdienst. Nicht zuletzt bewirkte die zunehmende wirtschaftliche Orientierung auf Deutschland, beflügelt von der schrittweise verbesserten Verkehrsinfrastruktur, also dem Bau von Eisenbahnen und Straßen, eine nachhaltige Anlehnung an Deutschland.
Daran änderte auch der Kulturkampf unter Bismarck in den Jahren 1871 bis 1878 nichts, der zwar einen erheblichen Druck auf die Katholiken ausübte und mit scharfen Maßnahmen den Gebrauch der slawischen Sprachen einschränken sollte, jedoch letztlich das Gegenteil des Gewollten bewirkte: 1876 kam es zu einer Solidarisierung der deutschen, polnischen und mährischen Katholiken Oberschlesiens bei ihrer Generalversammlung in Ratibor, die einen Protest gegen „das am slawischen Volk begangene Unrecht“ verabschiedete. Ein weiteres Ergebnis war die spätere Gründung der „Katholischen Zeitung für das mährische Volk im preußischen Schlesien“. Bei den Landtagswahlen 1881 gewann die katholische Zentrumspartei, die auch bei den Hultschinern große Sympathien genoss, in Oberschlesien alle zwölf Mandate. Rückblickend würde man heute wohl von einer gelungenen Integration sprechen.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ