Zwischen Fleisch und Wort
Eugen Brikcius fand über Latein und Deutsch zurück zum Tschechischen. Eine Begegnung mit dem Gewinner des Jaroslav-Seifert-Preises
16. 12. 2015 - Text: Maria SilenyText: Maria Sileny; Foto: ČTK/David Konečný
Was hat die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach mit Odysseus zu tun? Das wissen im Moment nur eine Handvoll Eingeweihte. Denn die beiden Figuren sind Teil der Handlung eines noch unveröffentlichten Romans. Geheimnisvoll erscheint auch der geplante Titel: „Nepředmětná Odyssea“ („Die gegenstandslose Odyssee“). Der Autor Eugen Brikcius sitzt in einer Prager Weinstube, ein Glas Merlot vor sich, und blättert im Manuskript. Passagenweise liest er daraus, privat vorerst, denn das Werk wird erst im Frühling nächsten Jahres erscheinen. In dem umfangreichen Schaffen des Dichters wird dies eine Premiere sein, wie er selbst sagt. Einen Roman nämlich, sogar einen mit Handlung, hat er nun zum ersten Mal geschrieben. Für sein bisheriges Werk, bestehend aus Gedichten, Essays und Aktionskunst, erhielt Eugen Brikcius im Herbst den Jaroslav-Seifert-Preis.
Zuvor erschienen seine gesammelten Werke in einem fast 1.000 Seiten zählenden Band mit dem Titel „A tělo se stalo slovem“ („Und das Fleisch ist Wort geworden“). Der Satz erinnert an das Johannesevangelium, nur die Reihenfolge Wort – Fleisch ist verkehrt. Zudem habe der Titel nichts mit der Bibel zu tun, erklärt der 73-jährige Dichter. So ist Eugen Brikcius, so ist sein Schaffen. So oder vielleicht auch ganz anders.
Mit Fleisch ist in dem Fall Aktionskunst gemeint, also Happenings, die Brikcius als körperliche, aber auch seelische Übungen der Kunst mehrfach veranstaltete. Das wohl berühmteste mit dem Titel „Brote“ inszenierte er im Sommer des Jahres 1967. Hingerissen von der Schönheit der barocken Gärten unterhalb der Prager Burg, beschloss der damals 25-jährige Prager Philosophiestudent, dort eine Zeremonie zu veranstalten. Es gelang ihm, hundert Menschen zusammenzubringen, die in einer Prozession runde Brotlaibe trugen, um sie schließlich zu Füßen einer Göttin pyramidenartig aufzutürmen. Die Göttin war eine hübsche Frau, in die Brikcius seinerzeit verliebt war, die ihn jedoch verschmähte. Auch das Happening zu ihren Ehren half nichts. Dafür weckte es den Unwillen der kommunistischen Behörden. Brikcius wurde verhaftet und musste sich dafür verantworten, dass etwas geschah, was die Behörden nicht einordnen konnten.
Gefängnis und Verhöre
„Ich habe mich in der Diktatur als freier Mensch benommen“, sagt der Künstler heute, „nicht etwa aus Protest, sondern weil ich so bin“. Immer wieder geriet er deswegen in Schwierigkeiten. So musste er 1973 für acht Monate ins Gefängnis, weil er in einer Kneipe ein Lied gesungen hatte, das als Beleidigung der Sowjetunion interpretiert wurde. Die Zeit im Gefängnis nutzte Brikcius dazu, Latein zu lernen. Als Sänger wurde er verhaftet, als Dichter lateinischer Verse kehrte er in die Freiheit zurück. Unter seiner Feder erwachte eine tote Sprache zum Leben. „Cadus Rotundus“, der runde Krug, Weinkrug, versteht sich, nannte er eine seiner Sammlungen lateinischer Lyrik. Der Dichter Pavel Šrut war so angetan von den Versen, dass er sie ins Tschechische übertrug.
Doch Brikcius beließ es nicht nur bei Latein. Nachdem er als einer der Ersten die Charta 77 unterzeichnet hatte und nach etlichen Verhören gezwungen wurde, seine Heimat zu verlassen, begann seine Wiener Zeit – und mit ihr gewann er Deutsch als die Sprache seiner Kunst. Das Fleisch wurde immer mehr zu Wort, sprich: Die Aktionskunst wurde immer mehr zu Text. Brikcius schrieb deutsche Verse, auf die sich jeder einen Reim machen kann: „Wenn ich aus der Luft greif’/was ich brauch’ für meinen Schwank/wirkt halt das was ich greif’ steif/und macht jeden Fachmann krank/Doch dank diesem miesen Schwank/auf den ich als Fachmann pfeif’/kommt’s zum fachmännischen Zank/und der Schwank wird bühnenreif.“
Der Dichter erkannte, dass Tschechisch und Deutsch eine Welt sind: „Tschechisch ist wie Deutsch, das ins Tschechische übersetzt wurde“, sagt er über einem zweiten Glas Merlot in der Prager Weinstube. Und fügt hinzu: „Die lateinische, die deutsche und ja, auch die englische Sprache, sie alle waren eine Abzweigung auf meinem Weg zum Tschechischen.“ Das habe er ausgerechnet in Tunesien erkannt, als er im Meer schwimmend darüber nachdachte, warum er deutsche Gedichte schreibe, die er anschließend ins Tschechische übersetze. So beschloss Brikcius, künftig das noch nicht existente deutsche Original direkt ins Tschechische zu übersetzen, wie er erzählt. Das Wort wurde am Ende ein tschechisches Wort. Und weil es auf Umwegen aus dem Fleisch zurückkam, wurde es ein körperliches Wort – in der Gestalt von Liebeslyrik. Der Titel: „Z milosti těla“ („Aus der Gnade des Körpers“).
Ob Verse, Aktionskunst, Essays oder Träume, die zu einer Fernsehserie verarbeitet wurden – das vielgestaltige Werk des Eugen Brikcius dient einer Leidenschaft: der Mystifizierung. Der Täuschung, der Irreführung also? Ja und nein. Denn laut Brikcius gebe es mindestens zwei Arten von Mystifizierung: Die klassische täuscht vor, etwas zu sein, was sie nicht ist. Die neue, die Eugen Brikcius leidenschaftlich pflegt, täuscht das Vortäuschen vor. Denn der Dichter erzählt eine Wahrheit, von der das Publikum denkt, sie sei eine Täuschung. Also täuscht die neue Mystifizierung vor, etwas zu sein, was sie ist. Alles klar?
Gelehrter und Dandy
Letztendlich erzählt der Autor in seinen Werken von sich und seinem Leben, wie der Literaturkritiker Viktor Šlajchrt im Vorwort des umfangreichen Sammelbandes bestätigt: „Der Hauptheld von Brikcius’ Texten ist Brikcius selbst, ein exzentrischer Gelehrter und Dandy, bei dem sich eine ungehörig angeberische Selbstdarstellung von witziger Selbststilisierung kaum unterscheiden lässt.“ Dabei entfalte er sich zu einem „eigenständigen Kunstwerk“. Auch in dem noch nicht publizierten Roman mit dem geplanten Titel „Die gegenstandslose Odyssee“ geht es weniger um den mythischen Odysseus als um Brikcius selbst. „Das Buch ist eine Weltpremiere in der Verwendung des gegenstandslosen Denkens in der Belletristik“, verrät der Künstler. Dabei kann er als Autor uneingeschränkt in jede Richtung denken, ohne sich auf einen Mythos festzulegen. Neues kann entstehen. Odysseus wird zu Brikcius. Oder auch zu einem, der vor Brikcius’ Grab steht und trauert. Das Kryptogramm OCC, occisus, ermordet, steht darauf. Doch ein dichter Nebel hindert den Helden daran zu erkennen, wessen Grab es wirklich ist. Wurde der Geheimnisvolle tatsächlich umgebracht? Und wenn ja, von wem? Etwa von sich selbst?
Nun, so einfach wie es scheinen mag, ist das Werk nicht. Auf 250 Seiten erstrecken sich parallel fünf Romane, vom Liebesroman über Krimi und Hunderoman bis hin zum Erziehungs- und metaphysischen Roman. Eugen Brikcius lacht und hebt das Weinglas. Das Leben macht Spaß.
Jaroslav-Seifert-Preis
Der mit 100.000 Kronen (rund 3.700 Euro) dotierte Preis wird seit 1986 von der Stiftung Charta 77 vergeben. Ausgezeichnet wird jeweils ein herausragendes schriftstellerisches Werk der letzten drei Jahre, eventuell auch das Lebenswerk eines Autors. Namensgeber ist der Prager Dichter Jaroslav Seifert (1901–1986), der 1984 als bislang einziger Tscheche den Nobelpreis für Literatur erhielt.
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